Viele meiner Klient:innen haben diesen Satz schon einmal von jemandem zu hören bekommen, der ihnen nahesteht:“Du musst Dir mal ein dickeres Fell zulegen!“ Wenn sie mir davon berichten, sehen sie meistens schuldbewusst aus. Sie haben es versucht, aber es nicht hinbekommen. Ich antworte dann mit einer Frage:“Haben Sie die Person, die Ihnen diesen Rat gegeben hat, auch gefragt, wie genau das geht?“ Nein, haben sie nicht.

Es ist einer dieser Sätze, bei denen überall auf der Welt die Gespräche in einer Sackgasse landen. Wer ihn gesagt bekommt, dem fällt diese so naheliegende Frage nach dem „Wie geht das denn?“ erst gar nicht ein. Weil es ein Satz ist, der Scham erzeugt. So, wie Du bist, bist Du falsch. So, wie Du fühlst, ist es falsch. Normale Menschen können besser mit dem Leben umgehen. Du bist nicht normal. Das sind die dahinterliegenden Botschaften, die dieser Satz im Gepäck trägt.

Aus psychologischer Sicht ist es nicht möglich, sich ein dickeres Fell zuzulegen. Ja, die meisten Menschen werden im Laufe ihres Lebens unempfindlicher, aber ist das wirklich so erstrebenswert? Je älter wir werden, umso mehr Enttäuschungen haben wir erlebt. Die freudigen Erwartungen, die wir als junge Menschen hatten, ohne sie auch nur wahr zu nehmen, sind ein paarmal enttäuscht worden. Desillusionierung ist die Folge. „Du musst langsam mal anfangen, so desillusioniert zu sein, wie ein alter Mensch, in dessen Leben alles schief gegangen ist!“ – da würde ja auch niemand drüber nachdenken, ob das ernsthaft ein guter Ratschlag ist, oder?

Wenn wir mal ehrlich sind, dann geht es bei diesem Satz um etwas ganz anderes: Sei doch nicht immer so verletzt, wenn Dir jemand etwas Verletzendes sagt! Im besten Falle ist es ein Ausdruck der Hilflosigkeit von jemandem, der uns sehr gern hat und nicht mit ansehen mag, dass wir leiden. Ein Trostversuch also, der aus dem eigenen Wunsch entsteht, den Schmerz nicht mit ansehen zu müssen.

Im schlechtesten Falle jedoch ist es Gaslighting: Derjenige, der uns eben gerade noch absichtlich eine Verletzung beigebracht hat, macht uns jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen dafür, dass wir verletzt sind. Reintreten und Nachtreten, sozusagen, aber versteckt unter dem Deckmäntelchen der Fürsorge.

Was, wenn es gar kein Problem ist, ein dünnes Fell zu haben? Was, wenn das vielleicht sogar eine richtig gute Sache ist? Wenn ich mit diesen Klient:innen näher hinsehe, ist es meistens ziemlich leicht, die Verletzung zu sehen, die vor dem Satz da war und über die sie aufgefordert wurden, hinwegzusehen.

Gegen eine Verletzung, die man wahrgenommen hat, kann man sich wehren. Man kann Vorsichtsmaßnahmen treffen, um in der Zukunft nicht erneut auf diese Art und Weise verletzt zu werden – viele sogar. Ein dünnes Fell zu haben macht uns nicht automatisch zu wehrlosen Opfern.

Wer jedoch krampfhaft so tut, als habe er keine Schmerzen, obwohl da welche sind, der steckt sehr viel Energie dorthin, wo sie ihm selbst schadet. Psychosomatische Erkrankungen wie Bluthochdruck, Magengeschwüre, Neurodermitis, Arthritis, Fibromyalgie, aber auch Panikattacken, Angststörungen und Depressionen gehören zu den klassischen Folgen. Nicht wenige meiner Klient:innen wurden damit diagnostiziert und über längere Zeit arbeitsunfähig geschrieben. In der Tagesklinik oder in einer psychosomatischen Reha wurden sie dann langsam daran herangeführt, wieder mehr zu fühlen; der eigenen Wahrnehmung von Verletzung wieder zu vertrauen.

Wer also wirklich nur das Beste derjenigen, die ihm am Herzen liegen im Sinn hat, dem rufe ich hiermit zu:“Du musst Dir mal ein dünneres Fell zulegen!“ Denn wenn wir alle zulassen würden, den Schmerz der Menschen um uns herum nicht nur zu sehen, sondern auch zu fühlen, dann würden die meisten von uns sich gegenseitig viel weniger Verletzungen zufügen. Und wir alle könnten den Verletzenden viel schneller und deutlicher die rote Karte zeigen.