Depressionen, so erkläre ich meinen Patient:innen gerne, sind für die Psyche das, was Fieber für den Körper ist – egal, welches Problem man eigentlich hat, wenn man es nur stark genug hat, bekommt man dieses Problem noch obendrauf. Körperliches Fieber kann eine gesunde Reaktion sein, ausgelöst durch bakterielle Infektionen, durch Viren, durch Knochenbrüche, ja sogar durch Krebs und andere schwere Erkrankungen. Der Körper fährt die Betriebstemperatur hoch um schädliche Eindringlinge abzutöten oder Wundstellen zu versorgen. Der fiebernde Körper widmet sich intensiv den Aufräumarbeiten.

Depressionen, so nimmt man seit Jahren an, sind oft eine ebenso gesunde Reaktion auf ungesunde Lebensumstände. Das Gehirn zwingt uns, uns zurückzuziehen und einer Herausforderung aus dem Weg zu gehen, die so wirkt, als könnten wir sie nicht bewältigen. So fühlen sich für jemanden in einer akuten Depression oft die kleinsten Aufgaben an, als seien sie „nicht zu schaffen“. Selbst das, was man sonst mit links erledigt hat, fühlt sich unfassbar energieraubend an.

Inzwischen legt die medizinische Forschung sogar nahe, dass der Zusammenhang zwischen Depression und Fieber noch unmittelbarer ist: Beide werden möglicherweise direkt vom Immunsystem ausgelöst. Wir alle kennen diese Tage, an denen wir uns aus heiterem Himmel niedergeschlagen fühlen. Wir wollen urplötzlich nach Hause, niemanden mehr sehen, nicht ans Telefon gehen und uns einfach nur hinlegen. Oft folgt auf dieses Gefühl wenige Stunden später der zugeschwollene Hals, die laufende Nase, der Schüttelfrost. Doch das, was zuerst da war, war die Niedergeschlagenheit.

Diese Niedergeschlagenheit wird auch als „Krankheitsgefühl“ bezeichnet: In Vorbereitung auf den Großeinsatz des Immunsystems sorgt das Gehirn schon einmal dafür, dass wir uns an einen geschützten Ort begeben, an dem der Körper ganz in Ruhe aufgeräumt werden kann. Die Energiezufuhr für alles, was nicht unmittelbar für den Kampf gegen die Krankheit notwendig ist, wird heruntergefahren. „Stör jetzt nicht, Mensch, Du hast erst mal Pause,“ scheint unser System zu sagen.

Die immunologische Forschung hat in den letzten Jahren mehr und mehr Hinweise darauf gesammelt, dass dieses Krankheitsgefühl auch dann ausgelöst werden kann, wenn die Auslöser weniger offensichtlich sind. Dann erleben wir genau diesen Schutzmechanismus des Körpers als Depression: Scheinbar grundlos fühlen wir uns niedergeschlagen, wollen nur noch alleine sein und sind völlig energielos. Jede Anstrengung, zu der wir uns zwingen weil wir ja wissen, dass wir nicht körperlich krank sind, wird vom Körper mit noch mehr Müdigkeit und noch mehr Ohnmachtsgedanken quittiert.

Der schwedische Psychiater Anders Hansen legt diesen Mechanismus in seinem Buch „Brain Blues“ sehr verständlich dar. Und auch ein möglicher Zusammenhang zwischen Impfungen und Depressionen wird durch diese medizinische Sichtweise verständlich. Impfungen haben ja immer erst mal einen akut aktivierenden Effekt auf das Immunsystem. Der Körper kann nur bedingt unterscheiden zwischen einer tatsächlichen Krankheit und dem geplanten Lerneffekt, den eine Impfung auslöst. Möglicherweise übertreibt er es dann beim Auslösen des Krankheitsgefühls und geht stattdessen in die Depression.

Was folgt daraus nun für die Psychotherapie? Leider ist es anscheinend in so einem Fall nicht so leicht, dem Immunsystem aufzuzeigen, dass es Unrecht hat oder es gar auszubremsen. Hilfreicher ist an diesem Punkt die Frage, was genau diese unangebracht scheinende Schutzreaktion ausgelöst hat. Genau wie ein eingedrungenes Bakterium, ein Virus, eine Verletzung oder eine Zellmutation, gibt es auch Dinge, die in unser Bewusstsein eindringen und dort als Bedrohung gewertet werden. Unsere Körper sind über hunderttausende von Jahren daraufhin optimiert, jede Art von Stress als potenzielle Gefahr zu werten.

Wenn wir in der Steinzeit oder im Mittelalter dauerhaftem Lärm ausgesetzt waren oder ständig jemand ankam, der dringend etwas von uns wollte, dann vermutlich, weil um uns herum ein Krieg oder eine andere andauernde Katastrophe wie eine Hungersnot oder eine Pandemie herrschte. Auch dann war es immer eine sinnvolle Überlebensstrategie, sich in Sicherheit zu bringen und möglichst wenig Kontakt mit anderen Menschen zu haben. Dass permanenter Autolärm und hereinpingende E-Mails viel harmloser sind, ist in unseren biologischen Körpern einfach noch nicht angekommen. Die Evolution hat nicht genug Zeit gehabt, unsere Wahrnehmung daran anzupassen.

Deshalb gilt: Auch wenn dieses Erklärungsmodell wunderbar entlastend sein kann für Betroffene – es führt kein Weg drumrum, sich anzusehen, wo genau der Stress im Leben sitzt. Eine Depression verpflichtet uns dazu, die Grenzen der eigenen Belastbarkeit anzuerkennen. Das bedeutet nicht, dass man nie wieder so leistungsfähig sein wird, wie vor der Erkrankung. Es kann ganz im Gegenteil dazu führen, dass man wählerischer mit der eigenen Energie umgeht und so in Zukunft neue Höchstleistungen erbringt – nur halt genau dort, wo es einem selbst am meisten bringt im Leben. Dann geht man auch aus einer Depression mit einem gestärkten psychischen Immunsystem hervor: Man weiß, welchen Stressfaktoren man sich erst gar nicht wieder dauerhaft aussetzen sollte. Eine Klarheit, die zu einer höheren Resilienz, Selbstbestimmung und Leichtigkeit führen kann.