Gesprächspsychotherapie ist nicht für jede:n. Nur, wer dafür offen ist, sich selbst zu hinterfragen, wird sich darauf einlassen.* Menschen, die eine solche Psychotherapie in Anspruch nehmen, haben also grundsätzlich schon mal eine besondere Fähigkeit: Sie sind in der Lage, Abstand zu sich selbst einzunehmen und die Möglichkeit anzuerkennen, dass sie auch anders sein könnten.

Dafür braucht es eine gewisse Intelligenz und eine gewisse innere Stabilität. Den meisten Menschen ist an diesem Punkt aber gar nicht bewusst, dass sie beides besitzen – sie kommen ja oft erst dann, wenn sie zutiefst verunsichert sind, weil Dinge in ihrem Leben nicht rundlaufen.

Genau aus diesem Grund gibt es eine bestimmte Art von Menschen, die besonders häufig in der Psychotherapie landet: Unerkannte Hochbegabte. Es ist immer wieder ein merkwürdiger Moment, wenn ich jemanden damit konfrontiere, dass ich ihn oder sie für hochbegabt halte. Die meisten weisen es weit von sich. Sie glauben, als Hochbegabte müsste man automatisch auch erfolgreicher sein als andere, man müsste sich klüger fühlen, man müsste schneller oder fehlerfreier arbeiten. Dabei ist tragischerweise oft genug genau das Gegenteil der Fall.

Hochbegabte erleben meist schon im Alter von drei oder vier Jahren, dass die Welt um sie herum irritiert auf sie reagiert: Erwachsene erschrecken, weil sie manche Meilensteine „zu früh“ nehmen. Andere Kinder antworten ihnen nicht, weil sie sie schlichtweg nicht verstehen. Sie merken schnell, dass nur sie selbst so befremdlich auf andere wirken. Hochbegabung macht feinfühlig, lange bevor sie sich in Mathematik, Fremdsprachen oder ähnlich intellektuellen Bereichen zeigen könnte.

Gerade hochbegabte Menschen schneiden in der Schule oft eher durchschnittlich ab. Denn gute Noten gibt es nicht dafür, dass man Dinge schnell versteht, sondern dafür, dass man die Geduld aufbringt, immer einen Lernschritt nach dem anderen zu gehen. Man muss stundenlang repetitive Hausaufgaben erledigen und sich unter Beobachtung kleinste Wissenshäppchen ins Gedächtnis schreiben. Hochbegabten wird dabei langweilig, weshalb sie ein organisiertes Lernen nicht erlernen. Und wem diese grundlegenden Selbstorganisationstechniken fehlen, der kommt spätestens in der Oberstufe wirklich nicht mehr hinterher.

Um dem Befremden der Menschen um sie herum zu entkommen, entwickeln hochbegabte Kinder oft unbewusst Strategien, mit denen sie weniger stark auffallen. Manche werden schweigsam und werden daher für dumm gehalten. Nicht selten übernehmen sie dieses Bild dann sogar selbst von sich. Andere entwickeln eher eine körperliche Unbeholfenheit. Wenn die Eltern einen nicht verstehen, aber jedes Mal, wenn man sich stößt oder stolpert zu Hilfe eilen, dann ist das Selbstbild, ein „Körperklaus“ zu sein auf paradoxe Art beruhigend.

Die klassische Definition von Hochbegabung lautet „Menschen mit einem IQ über 130“. Doch viele hochbegabte Kinder haben schon vor Beginn der Schulzeit gelernt, ihre intellektuellen Fähigkeiten zu verstecken, sogar vor sich selbst. Deshalb hat die Autorin Andrea Brackmann das Wesen der Hochbegabung so zusammengefasst:„Mehr von allem: mehr denken, mehr fühlen, mehr wahrnehmen.“

Wer mehr denkt, hat meistens mehr Ängste – denn Ängste sind vorweggenommene Gefahren in der Zukunft. Vorausdenken zu können ist nicht sonderlich förderlich für die Entspannung, schon gar nicht, wenn man merkt, dass die Erwachsenen, die Gefahren abwenden sollten, sie oft erst viel später sehen, als man selbst. Wer mehr fühlt, hat mehr Stress zu verarbeiten. Wer mehr wahrnimmt, ermüdet schneller als andere, ist unter „normallauten“ Umständen weniger leistungsfähig.

Wenn in der Psychotherapie eine unentdeckte Hochbegabung aufgedeckt wird, dauert es oft ein bisschen, bis Klient:innen diese akzeptieren. Dann jedoch macht sich Erleichterung breit: Die eigene Lebensgeschichte macht mehr und mehr Sinn. Es kam einem nicht nur so vor, als wäre man anders, es war tatsächlich so!

Wie jedoch geht man um mit der Trauer um all die verpassten Möglichkeiten? Wo lässt man die Wut auf die Erwachsenen, die einen nicht mehr gefördert haben? Darf man anerkennen, dass die eigenen Eltern weniger intelligent sind, als man selbst und deshalb vielleicht gar nicht sehen konnten, was da los war? Ja, man darf. Man muss es sogar, um sich mit sich selbst zu versöhnen.

Muss man zurück auf die Schulbank, eine neues Studium beginnen, eine High-Potential-Karriere anstreben, sich auf ein Leben voller Überstunden und Machtspiele einlassen? Nein, muss man nicht. Karriere macht der, der es will, nicht der, der es vielleicht sollte. Aber man darf die Lust an den eigenen Fähigkeiten wiederentdecken und sich ein Leben erschaffen, in dem man dieses „mehr von allem“ voll und ganz auskostet. Mehr denken – dort, wo es spannend ist und Spaß macht. Mehr fühlen – wofür Hochbegabte meistens deutlich weniger sensorischen Input brauchen, als andere. Mehr wahrnehmen – und sich mehr Zeit und Ruhe zum Verarbeiten gönnen.

Für eine tiefere Betrachtung des Themas Hochbegabung empfehle ich Andrea Brackmanns Buch „Jenseits der Norm – hochbegabt und hochsensibel?“, erhältlich im Verlag Klett-Cotta.

*Ja, es gibt auch Menschen, die in einer Lebenskrise ein paar stützende Gespräche suchen, ohne sich selbst hinterfragen zu wollen. Streng genommen ist das dann aber nur Beistand, keine Psychotherapie im engeren Sinne.