Am Beginn meines Podcasts hatte ich meinen Zuhörer:innen etwas versprochen: „Es wird hier keine Fachbegriffe geben.“ Heute sage ich: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.“ Das hat ja schon Konrad Adenauer so gesagt, dann darf ich das auch. 

Ich habe zum Ende dieses krassen Jahres lange nachgedacht, was ich meinen Hörer:innen mitgeben möchte, das sie wirklich weiterbringt. Wenn ich zum letzten Jahreswechsel schon einen Podcast gehabt hätte, was hätte ich ihnen gerne mit auf den Weg gegeben? Ich hätte ihnen wahrscheinlich zu erklären versucht, wie man einen guten Vorsatz fasst, der auch funktioniert, was ein schlechter guter Vorsatz ist – so einer, der nicht funktionieren wird – und worin genau ein guter guter Vorsatz sich davon unterscheidet.

Dann hätten sie womöglich ganz, ganz tolle gute Vorsätze gefasst, in der Hoffnung, dass es ihnen gelingt, ihre Ziele für 2020 diesmal wirklich zu erreichen Ziele, wie diese: 

  • Mehr Reisen. 
  • Mehr unter Leute gehen. 
  • Regelmäßig ins Fitnessstudio gehen. 
  • Weniger Zeit zuhause verbringen, weniger online sein. 


Nur hätte Ihnen all das in einer globalen Pandemie nicht viel  geholfen.

Also breche ich heute mal mein Versprechen, um meinen Hörer:innen und Leser:innen etwas mitzugeben, das ich wirklich, wirklich wertvoll finde in diesen wirren Zeiten. Und dafür gibt es, so leid es mir tut, kein einfacheres Wort als dieses: Ambiguitätstoleranz. Das Konzept der Ambiguitätstoleranz ist so hilfreich, wie das Wort schwer zu behalten ist.  

Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, Uneindeutigkeit auszuhalten. Wir Menschen haben’s ja eigentlich gern eindeutig – ist das Schwarz oder Weiß, ist das gut oder schlecht, wie mache ich es richtig und wie ist es denn falsch? 

  • Ambiguität erlebe ich, wenn mich eine fremde Person anruft und ich an der Stimme nicht klar erkennen kannst, ob sie männlich oder weiblich ist. Dann muss ich aushalten, dass ich gerade nicht sicher weiß, wie ich sie richtig anspreche.
  • Ambiguität erlebe ich, wenn ich mich über ein laues Frühlingslüftchen und zwitschernde Vögel am Morgen freust und dann merke, dass im Radio gerade White Christmas läuft. Dann muss ich aushalten, dass ich weiß, dass es zu warm für die Jahreszeit ist. 
  • Ambiguität erlebe ich, wenn nebenan neue Nachbarn einziehen und ich noch nicht abschätzen kann, ob wir gute Freunde werden oder ob sie sich laut, lärmend, rücksichtslos und unverschämt benehmen werden. 

Man weiß irgendwie, dass beides nicht zusammenpasst, man hat das Gefühl, dass eins davon richtig sein sollte. Aber das leider ist das andere deshalb nicht weniger wahr. 

Ambiguitätstoleranz in Liebesbeziehungen

Wenn wir mit etwas konfrontiert werden, das wir nicht oder noch nicht einordnen können, dann kann das ziemlich starke Gefühle in uns auslösen und das kann ganz schön schwer auszuhalten sein.

Angenommen, Du hast Schmetterlinge im Bauch beim Anblick eines Menschen, den Du eigentlich noch gar nicht kennst und von dem Du gar nicht weißt, wie er oder sie so drauf ist – dann hast Du zwei sehr widerstrebende Bedürfnisse in Dir: Das Bedürfnis, dem anderen näher zu kommen und das Bedürfnis, Dich zu schützen. Und je länger Ihr zusammen seid, umso schwieriger wird es manchmal. Auf einmal hast Du widerstrebende Bedürfnisse: Du möchtest möglichst viel über den anderen erfahren, zugleich aber möglichst wenig über ihn oder sie zu erfahren, was das schöne Bild, das Du von ihm oder ihr hast, kaputtmacht. Und umgekehrt natürlich auch – Du möchtest Dich zeigen, so wie Du bist und ohne Geheimnisse, Du möchtest aber auch nicht die Erfahrung machen, abgelehnt zu werden. Schon gar nicht von jemandem, der Dir wichtig ist. 

Wenn Du eine geringe Ambiguitätstoleranz hast, kann es passieren, dass Du zu  irgendwann entscheidest, einen Menschen nicht näher an Dich heran zu lassen, oder – und das ist mindestens genau so schlimm – dass Du lieber nicht so genau hinsiehst und über die Dinge, die Dich an ihm oder ihr stören, einen blinden Fleck legst. Das, was Du schwer aushalten kannst, ist alles einfach gar nicht da. „Das hab ich nie gesehen, das ist alles gar nicht wahr.“

Eine hohe Ambiguitätstoleranz ist also unter Anderem eine wichtige Grundlage für die Fähigkeit, tiefe und dauerhafte Bindungen zu anderen einzugehen. Denn wirklich lieben und dauerhaft zusammen sein kannst Du nur mit jemandem, bei dem Du ganz genau weißt, was Du an ihm oder ihr nicht so gerne magst, was Dich herausfordert, was Dich manchmal auch um den letzten Nerv bringt. 

Ohne Ambiguitätstoleranz wird’s gefährlich

Das Gegenteil von Ambiguitätstoleranz heißt „Ambiguitätsintoleranz“ – und die kann richtig gefährlich sein – wenn Du nicht aushalten kannst, dass eine Situation nicht oder noch nicht einzuschätzen ist, kann das starke unangenehme Gefühle in Dir auslösen. Wenn Du nicht weiß, was los ist, kann Dir das große Angst machen oder es kann Dich sehr aggressiv machen, nicht zu wissen, woran Du bist und wie Du angemessen auf das reagieren kannst, was da los ist. Im schlimmstmöglichen Fall sind diese Gefühle so schwer für Dich auszuhalten, dass Du jemanden zum Feind zu erklärst und selbst in den Angriff gehst, weil Du glaubst, Dich verteidigen zu müssen. 

Ambiguität erlebst Du, wenn Du Dich und Deine Mitmenschen vor einem Virus schützen möchtest, Du aber jeden Tag neue Informationen darüber erhältst, wie gefährlich dieses Virus ist oder nicht, wie ansteckend, was Du tun kannst oder nicht. Dann kommt der Punkt, an dem Du einsehen musst, dass es die verlässlichen Informationen darüber, wie die Antworten auf diese Fragen lauten, einfach noch nicht gibt und noch nicht geben kann – weil alle Menschen, einschließlich der Wissenschafter und Politiker, von denen wir uns immer so viel Klarheit und Sicherheit erhoffen, mit etwas völlig Neuem konfrontiert sind. Wenn Du diese beängstigende Wahrheit nicht aushältst – niemand weiß, was los ist – dann schafft es Dir Erleichterung, irgendeinen Schuldigen zu suchen, der das alles verbockt hat. Dann wirst Du anfällig für Verschwörungstheorien und für die aggressiven Aufwiegler, die Lust auf ein bisschen Remmidemmi haben. 

Vielleicht machst Du das erst mal nur auf Facebook und nur in einer kleinen Diskussion, aber wenn Aggressionen erst mal freigelassen werden, können sie sich auch ganz schnell aufschaukeln. Keine Ahnung haben, aber eine umso stärkere Meinung – das klingt so lustig, aber das ist es nicht. Es rührt aus einem tiefen Bedürfnis nach Klarheit und Sicherheit, das wir alle haben. Aber es erschafft nichts Gutes – weder Verständnis, noch eine gesunde Abgrenzung.

Aber in unser aller Leben gibt es nur sehr, sehr wenige Situationen, in denen es von langfristigem Vorteil ist, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Die Gefahren, denen wir ausgesetzt sind, sind einfach nicht mehr so akut, wie der Angriff eines Säbelzahntigers es für unsere Vorfahren war. Meistens ist es gut für uns, Ambiguität so lange wie möglich auszuhalten.

Unsere Welt ist aber nunmal voller unauflösbarer Gegensätze:

  • Wir haben Angst vor Wirtschaftsflüchtlingen aus dem Süden, würden aber selbst gerne in die USA oder in die Schweiz oder nach Norwegen auswandern. 
  • Wir möchten unserem Partner treu sein, haben aber gleichzeitig das Gefühl, etwas wichtiges zu verpassen, wenn wir unsere sexuellen Fantasien nicht ausleben bevor es dafür zu spät ist. 
  • Wir möchten die Umwelt schonen und unseren ökologischen Fußabdruck verringern, würden aber gerne in einem neugebauten Einfamilienhaus auf dem Land leben, wofür wir dann zwei PKW in der Familie brauchen.

Wie kann man diese Fähigkeit entwickeln?

Wenn Du anerkennst, dass es nicht in Deiner Macht steht, diese Gegensätze auszuräumen, dann ist genau das Ambiguitätstoleranz. Dann kultivierst Du Deine Fähigkeit, auszuhalten, was vermutlich der Keim der allermeisten aggressiven Konflikte in der Geschichte der Menschheit ist. 

Seit ich das verstanden habe, freue ich mich ganz oft. wenn ich merke, dass ich zu einem Thema weder eine Meinung haben muss, ich muss auch von ganz vielen Dingen keine Ahnung haben – weil es gar keine Entscheidung für mich zu fällen gibt. Das machen zum Glück andere für mich, die es besser können und die sich leichter damit tun, diese große Verantwortung zu tragen.

Manche Psychologen behaupten, Ambiguitätstoleranz sei Teil der Persönlichkeit – jede/r von uns habe mehr oder weniger davon und daran kann man nicht viel ändern. Aber die gute Nachricht ist: unser Bild davon, was genau Deine Persönlichkeit ausmacht und wie veränderbar das ist, ist gerade sehr im Wandel. Aus den Neurowissenschaften gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass auch unsere Persönlichkeitszüge sich im Laufe des Lebens verändern. 

Ich wähle da mal ein plakatives Bild: Dein Geist ist wie ein Garten – wenn das Unkraut überhand nimmt, dann wuchert es aus allen Fugen und Ritzen und nimmt den Kräutern und Früchten, die Du ernten wolltest den Platz weg. Wenn Du ab und zu ein wenig liebevoll das Unkraut in seine Grenzen verweist und die zarten Pflänzchen, die Dir besonders wichtig sind mit frischem Wasser und ein wenig gutem Dünger päppelst, dann wachsen sie von selbst über sich hinaus und tragen reichlich Früchte. 

Ambiguitätstoleranz als Mittel zu innerem Wachstum

Wenn Du anfängst, Dich bewußt und gezielt zu verändern, übernimmst Du aktiv die Kontrolle über Deinen Garten. Veränderungsprozesse wie Psychotherapie, Coaching, aber auch das ganz normale Wachsen und Reifen, das die meisten Menschen ganz ohne Begleitung in ihrem Leben meistern, ist immer begleitet von Phasen der Uneindeutigkeit. Das ist in meinen Augen die beste Art von Ambiguitätstoleranz – diejenige, die es Dir ermöglicht, wahrzunehmen, wo Dein eigener Schuh drückt und was Du wirklich ändern musst, um das Leben zu führen, das Dich zufrieden macht. 

  • Welches Ziel möchtest Du für Dich selbst festlegen, welches kannst Du guten Herzens abschreiben? 
  • Was brauchst Du als nächstes, um Deine Ziele zu erreichen und was hilft nur den anderen? 
  • Welche Menschen möchtest Du tatsächlich in Dein Leben einladen und welche entscheidest Du Dich, in Zukunft lieber links liegen zu lassen? 
  • Darfst Du all das wirklich selbst entscheiden oder solltest Du doch noch mal versuchen, das zu tun, was andere Dir sagen? 
  • Ist es jetzt tatsächlich schon so weit oder vielleicht doch lieber erst im nächsten Jahr? 

All das sind extrem wichtige Fragen und auf keine dieser Fragen wirst Du jemals eine eindeutige Antwort erhalten. Du allein bestimmst, was für Dich zählt. Je länger Du die Ambiguität aushältst, desto mehr Informationen bekommst Du an die Hand und desto leichter wird es, die richtige Wahl zu treffen. Es lohnt sich, genau hinzusehen, hinzuhören und abzuwarten, bis Deine Meinung wirklich reif ist. 

Und damit komme ich noch einmal zu dem Zitat vom Anfang – Konrad Adenauer, Du erinnerst Dich? Wie bei so vielen guten Zitaten, fehlt da nämlich die Hälfte. Was Konrad Adenauer wirklich gesagt hat, war Folgendes: 

„Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden.“

In diesem Sinne – ich wünsche Dir einen guten Rutsch ins Neue Jahr und viele Gelegenheiten, Deine Ambiguitätstoleranz zu vergrößern, weiser und glücklicher zu werden!